Honigtrost

Ich bin mal wieder unterwegs auf meinen Rollen.  Es ist gerade kurz nach sechs in der Sommerfrühe. An diesem klaren Sonntagmorgen auf dem flachen Lande gibt es weit und breit noch keine Motorengeräusche, die das Surren meiner Inliner auslöschen könnten. Ab und an meldet sich mal verschlafen ein Hund in der Ferne oder auch ein Hahn mit seiner morgendlichen Stimmerprobung.

 

Einige Kilometer liegen hinter mir, da sehe ich aus den Augenwinkeln eine wehende Bewegung. Leuchtend weiße und durchscheinende Stofffetzen tauchen entfernt auf und verschwinden wieder. Verbeugen sich behutsam und ehrfürchtig hinter den Büschen, um wieder neu zu erscheinen. Ich denke an eine Braut, deren weißer Schleier sich bei jedem Schritt und immer aufs neue in den Brombeeren verfangen hat und die sich jedes Mal bücken muss um sich zu befreien. Mysteriös, denn Ort und Zeit  für ein Brautkleid sind eigentlich überhaupt nicht stimmig. Außerdem ist neben der verhüllten Gestalt auch sonst kein Mensch zu sehen.

 

Die neuen Rollen laufen besonders gleichmäßig und leicht auf dem schwarzen Asphalt und nach wenigen Kilometern habe ich diese seltsam schwebende Gestalt wieder vergessen.

 

An einigen Stellen meiner Route wachsen die Bäume und Büsche bis an den Wegrand. Hier ist es im Schatten noch feucht und durch herab gefallenes Laub und Zweige ist immer wieder erhöhte Aufmerksamkeit gefordert. Obwohl ich Ellenbogen- und Knieschützer trage, möchte ich mich auf dieser einsamen Strecke nicht hinlegen.

 

Zwischendrin geht es beinah unmerklich bergab und meine Geschwindigkeit nimmt wie von selbst zu. Immer schneller werde ich. Ab und an rutsche ich mal leicht auf einer Wegschnecke aus, wenn ich sie zu spät gesehen habe. Meine Inliner werden am Ende dieser Fahrt wieder schleimig und verdreckt sein.

 

Dann kommt abermals ein dunkelfeuchtes Schattenfeld. Besonders angespannt und etwas zu schnell rase ich auf die Schattenflecken zu. Die dunkle Sonnenbrille ist mit Spuren von Schweißtropfen verschmiert und so sehe ich erst im Augenblick des Fußabsetzens, einen gebogenen Zweig vor meinen Rollen. Sofort blockieren die Räder schlagartig und ich versuche, verzweifelt mit den Armen rudernd, mich auf den Beinen zu halten. Unmöglich. Ich flieg mächtig aufs Steißbein und mit einer halben Drehung des Oberkörpers auf die rechte Seite. Erst bleibt mir die Luft weg und dann trau ich mich vor lauter Schmerz nicht, wieder einzuatmen. Wirbelsäule gebrochen und Querschnittslähmung, sind meine ersten Gedanken. Hier in der Einöde, hinter der Böschung, werde ich so bald nicht gefunden. An einem Sonntagmorgen um kurz nach sechs. Ohne Handy.

 

Nach endlosen Minuten geht`s dann doch langsam wieder. Ich bekomme nach und nach ein normales Gefühl in den Beinen und beim Atmen etwas zu viel davon in der Brust. Besonders in den Rippen auf der rechten Seite habe ich stechende Schmerzen. An der Stelle, wo der Ellenbogenschützer unter meinen Körper geraten war, fühlen sich mindestens drei Rippen gebrochen an. Ich quäle mich vorsichtig hoch und freue mich, endlich wieder auf den Skatern zu stehen. Blut vermischt sich mit dem Dreck aus den brennenden Schürfwunden am Arm und hinterlässt eine Tropfspur auf dem Weg. Langsam und etwas wackelig nehme ich wieder Fahrt auf. Ich mag vor Schmerz noch immer nicht richtig atmen und so scheinen die ersten Kilometer unendlich lang.

 

Schon von weitem sehe ich auf dem Weg ein Auto stehen. Ein kleiner heller Kombi. Er parkt so unmöglich und hat auch noch die hinteren Türen geöffnet, dass ich gezwungen bin abzubremsen und leicht stöhnend anhalte. Ich hole schmerzhaft tief Luft und will gerade anfangen zu schimpfen, da taucht hinter dem Fahrzeug erstaunlicher Weise die weiße Brautgestalt wieder auf. Diesmal ganz nah und mit zurückgeworfenem Schleier. Sie trägt einen Eimer in der Hand und scheint mindestens genauso überrascht wie ich.  Sie sagt sehr freundlich lächelnd, "Hallo", wobei sie mir ganz unvermittelt, jedoch mit einer völlig selbstverständlich wirkenden Bewegung, den Eimer entgegenstreckt, “Wollen sie?” Mit meinen blutbesudelten Händen möchte ich nicht in den Honigeimer fassen um mir eine Wabe herauszuangeln. So reicht sie mir eine dicke Bienenwabe, etwa so groß wie eine Tafel Schokolade und triefend von goldflüssigem Honig. Er riecht ganz besonders lecker. So intensiv wie in meiner Jungenzeit.

 

Auf der Weiterfahrt nehme ich immer wieder die rechte Hand in die Höhe, um die Wabe auszulutschen. Dadurch läuft  der klebrige Honig den Arm hinunter, vermischt sich mit dem Blut und dem Schmutz der Wunde, um dann vom Ellenbogen auf den Boden zu tropfen.

 

Es tut nicht mehr ganz so weh. Aber Tränen suchen sich überraschender Weise und etwas verstohlen ihren Weg. Tapfere Jungentränen eines schon viele Jahre Erwachsenen sind es, die sich erst nach und nach und wie von allein in ein erkennendes, breites Grinsen verwandeln.

 

Süßes hilft eben irgendwie immer noch.

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