Leben im Mund

 

 

Stille Wasser sind tief. Das vermittelte meine Mutter uns zumindest immer mal wieder. So, als sei sie von dieser Lebenserkenntnis ziemlich überzeugt.

 

Als Kind verstand ich den Sinn nicht so ganz, denn sie bezog es nicht etwa auf besonders tiefe Pfützen oder auf stilles Mineralwasser, sondern auf dunkle, unergründliche, vielleicht sogar unheimliche Seen. Ähnliche Eigenschaften unterstellte sie dementsprechend auch ruhigen, zurückhaltenden Menschen.

 

*

Ich erinnere mich an einen windstillen, klaren Tag. Wir standen im Gemüsegarten. Meine kleine, in der Tat recht schweigsame Schwester, hatte einen glänzenden, rotvioletten Regenwurm im Mund und grinste mich schweigend an.

 

Der Wurm hing etwa zur Hälfte heraus und wand sich verzweifelt. Ich mochte nicht hinsehen, aber es war, als fühlte ich ihn gleichzeitig in meinem Mund.

 

Ich hatte Sorge, dass sie ihn mit ihren kleinen scharfen Milchzähnchen durchtrennen würde. Und wollte etwas sagen oder wegsehen. Konnte jedoch meinen Blick nicht abwenden.

 

Im Gegenteil, ich starrte wie schockgefroren auf dieses zappelnde rote Tier.

 

Sie lächelte mich schief an und tat es. Es floss dabei kein Tröpfchen Blut und es gab auch keinen Schmerzenslaut.

 

Ich erinnerte mich jedoch in diesem Moment schlagartig an den Blutgeschmack in meinem Mund.

 

Als ich ungefähr so alt war wie sie, hatte ich mir beim wagemutigen Sprung von einer brusthohen Mauer, versehentlich auf die Zunge gebissen. Alles im Mund war damals blutig und taub und ich dachte erschrocken, ich hätte ein Stück von meiner Zunge abgetrennt.

 

Ich weiß nicht mehr, wohin die eine abgebissene Regenwurmhälfte verschwand. Oder ob meine kleine, niedlich und harmlos aussehende Schwester dieses Stück gar hinunter schluckte. Das hinab gefallene, halbierte Tier am Boden, wand sich jedoch mühsam weiter, als versuchte es, vor ihren nackten Füßen in dem festgetrampelten, schwarzen Mutterboden zu verschwinden.

 

*

Einige Zeit war vergangen, ich war mittlerweile wohl dreizehn Jahre alt und hatte gerade in Biologie gelernt, dass auch Regenwürmer unter Wasser ertrinken. Wir spielten in der hereinbrechenden Abenddämmerung verstecken, Im Hof hinter dem altehrwürdigen Schulgebäude. Einige Mitschüler und ich.

 

Ich verkrümelte mich still und leise hinter eine Mauerecke. Dort, unter einem überhängenden Rosenstrauch, voller schwerer Blüten, gab es ein gutes, zudem noch auffällig wohlriechendes Versteck.

 

Die große Blonde aus meinem Jahrgang fand das wohl auch. Sie war neu an der Schule und sie war gerannt. Außer Atem stand sie nun, unterdrückt keuchend, sehr dicht vor mir. Sie quetschte mich unverhohlen an die Wand.

 

Ich konnte ihre Körperformen spüren, ihr Gesicht jedoch nicht deutlich ausmachen, aber ihr weicher, kleiner Mund war urplötzlich auf meinem. Und die aufgeregte Zunge wühlte, sich nachdrücklich schlängelnd, in mir herum. Dabei schnaufte sie warme Luft, durch ihre kühle Stupsnase, an meine rechte Wange.

 

Es war mein erster, recht hilfloser Zungenkuss und ich musste unwillkürlich an den zerbissenen Wurm denken.

*

Als ich am darauf folgenden Tag in der Küche stand und mit einem, schon etwas klammen Geschirrtuch, das frisch gespülte Porzellan abtrocknete, erzählte ich meiner Mutter ziemlich leise und verschämt, diese, mich dann doch ungewöhnlich stark beschäftigende Geschichte.

 

Und während ich, auf ihre Reaktion gespannt, zu ihr aufsah, wandte sie sich mir jählings zu und tat es. Ihre Zunge war mit einem Mal in meinem Mund. Sie kam mir viel zu groß vor und gehörte dort auch nicht hin. Sie spürte das auch.

 

Der Porzellanteller war Sekundenbruchteile später am Boden zerstört und ich war total baff.

 

„Nur zum Üben...“, meinte sie dann leise und etwas verschämt erklärend, während sie sich brüsk wieder umdrehte und anschließend schweigend und mit versteinerter Miene, den Rest des verschmutzten Geschirrs abspülte.

 

Ich sammelte derweil, mit hochrotem und still gesenktem Kopf, die umher liegenden Scherben auf.

*

Jahre darauf erhielt ich einen weiteren überraschenden Zungenkuss.

 

Es passierte eines Morgens in Rotterdam auf dem Busbahnhof. Ich war ein schlaksiger Sechzehnjähriger und lehnte still, auf die bevorstehende Abfahrt wartend, an einer mächtigen, roten Backsteinfassade.

 

Eine sportliche Unbekannte lief lächelnd auf mich zu. Jung und schwungvoll. Mit wehendem Blondhaar.

 

Dann verharrte sie abrupt. Nur wenige Zentimeter vor meinem Gesicht. Sie sah mich zuversichtlich strahlend an.

 

Fremde Worte, mit einer überraschend tiefen Stimme, sprudelten aus ihr heraus.“Holländisch“, dachte ich. Natürlich holländisch. Ich grinste verlegen.

 

Verstehen konnte ich beinahe kein Wort, aber ich war fasziniert von diesem Sprudelmund.

 

Völlig überraschend berührten ihre kühlen Lippen die meinen und eine kleine freche Zunge drängelte, sich keck windend, zwischen meine Zähne. Die Zunge schmeckte nach süßer Kirschmarmelade. Vermutlich war sie auch genau so rot. Ihre Augen strahlten allerdings blau.

 

Dann spurtete sie zurück zu ihrem Bus voller jubelnder Mitschüler und tauchte am Heckfenster wieder auf. Sie winkte mir freundlich lächelnd zu und ihre Freundinnen winkten auch anerkennend feixend, während der Reisebus schwerfällig und Diesel rauchend aus seiner Parkbucht rollte und aus meinem Blickfeld verschwand.

 

Ich hatte mich nicht bewegt und stand, lässig die linke Hand hebend, wie vordem, still an der Backsteinwand. Diesmal lag mir jedoch die Wurmgeschichte fern. Vermutlich wegen der Fremde und des anhaltend fruchtigen Kirschgeschmacks.

 

Dennoch spülte ich ein paar Augenblicke später, die nicht weichen wollende Süße in meinem Mund, mit reichlich Wasser aus meiner mitgeführten Trinkflasche hinunter.

 

*

Über die Jahre habe ich mir angewöhnt, des Nachts ein Glas stilles, klares Wasser am Bett stehen zu haben. Denn es hilft bei Träumen von unerwünschtem Leben im Mund oder schlechtem Geschmack und auch gegen das unangenehme Gefühl klebriger Trockenheit.

 

Irgendwann hatte ich jedoch, beim verschlafenen Trinken im Morgengrauen, überraschend dieses kribbeln am Mund. Nicht wie sprudelndes Mineralwasser, nein, es war, als klammerten sich lebendige Kuchenkrümel an Ober- und Unterlippe fest.

 

Meine Zunge reagierte reflexhaft. Nun war das krabbeln auch im Mund. Große strampelnde Mohnsamen. Hart und glatt. Mit Beinen und lebendig.

 

Ich wurde zu langsam wach. Irgendwas stimmte nicht. Mein Schluck Wasser schmeckte einfach zu süß und klebrig. Und dazu diese hartnäckige Krabbelei.

 

Im Halbschlaf nahm ich blöder Weise einen weiteren Schluck, um alles wegzuspülen.

 

Stattdessen hatte ich plötzlich den ganzen Mund voller lebender und auch toter Wesen. Hektisch und angewidert spuckte ich diese unangenehm krümelige, zwickende Masse wieder zurück ins Glas und war nun richtig munter.

 

Ich knipste das Licht an und sah eine meterlange, krabbelnde Kolonne auf dem Fensterbrett, die knapp am Wasserglas vorbei marschierte.

 

Ameisen tippelten zum versehentlich stehengebliebenen, roten Kirschsaftrest vom Vorabend. Der war, während meiner nächtlichen Ruhephase, von dieser Ameisenkolonie übernommen worden.

 

Was nicht wenige von ihnen mit dem Leben bezahlt hatten, denn eine große Anzahl war im Saft ertrunken. Insgesamt eine ziemlich Ekel erregende Angelegenheit.

 

Puh, schön, dass man all die vielen anderen, im Mund lebenden Mikroorganismen, üblicherweise nicht so deutlich wahrnimmt, überlegte ich, während ich, mit einem ordentlichen Schluck aus dem daneben stehenden Wasserglas, die fruchtige Süße und das restliche Kribbeln wegspülte.

 

Stilles Wasser in der Nacht, ist in der Tat eine ruhige, klare Sache. Man kann bei Bedarf alles Mögliche damit hinunterspülen.

 

 

Und allein der Gedanke daran, dass dieses gefüllte Glas greifbar am Bett steht, beruhigt mich jeden Abend vor dem Einschlafen, auf eine angenehme Art und Weise.

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