Herkules

 

 

Ich bin mir nicht ganz sicher, meine jedoch, dass ich in jenem Sommer fünfzehn Jahre alt wurde. Jedenfalls hatte ich erstmals in meinem Leben eine ausreichende Summe zusammengespart, um mir das lang ersehnte, schwarze Herrensportrad zuzulegen. Also ein richtiges modernes Fahrrad. Eins für Große.

 

Alle Teile waren aus dem voluminösen Karton herausgeangelt, zusammengebaut und auch schon recht gut ausgerichtet worden. Die Freude über die blinkenden Chromteile und das glänzende Schwarz des Rahmens ließen mich beinahe erschauern. Eine erste kurze Probefahrt auf dem Hof verlief wie geplant.

Die Klingel wurde allerdings nochmals leicht verdreht und wohl zum zwanzigsten mal überschwänglich getestet, sowie der Sattel um einige Millimeter höher justiert. Als sei ich über Nacht ein wenig gewachsen. An diesem lauen Frühlingstag ging es nun endlich los. Zu einer ersten Testrundfahrt.

 

Ich wählte eine einsame, selten befahrene Route. Eine betonierte, kurvenreiche und recht schmale Straße. Vorbei an Weideland und unkultivierter, mit Büschen und Kräutern bewachsener Wildnis.

 

Meine eigentliche Konzentration lag in der Tat auf dem surrenden Rollen des sauberen, zweifarbigen Vorderreifens und den blitzenden Speichen an den Alufelgen. Ich drehte mich auch, zur Kontrolle der Kette und der Gangschaltung, hin und wieder mal kurzzeitig um.

 

Ein auffliegender Fasanenhahn erschreckte mich mit seinem typischen Flattergeräusch, lenkte mich einen Moment ab und ließ mich beinahe in die Sträucher fahren.

 

Dann folgte eine lange, überschaubare Gerade und ich trat kräftig in die Pedale, so dass der Fahrtwind meine offene Jacke blähte, während er in meinen Ohren rauschte. Die desolaten Asphaltfugen zwischen den Betonplatten waren fast nicht mehr zu spüren, als ich darüber hinweg fegte. Mich ergriff eine ungezügelte Freude und ich nahm die anschließenden drei Kurven voller Schwung, um dann, wegen der schlechter werdenden Straßenoberfläche, doch wieder kräftig abzubremsen. Auch die Bremsen funktionierten ausgesprochen gut.

 

Dann hörte ich, vor mir am Straßenrand, verdeckt hinter einem Gebüsch, kichernde Mädchenstimmen. Ich überlegte kurz, so zu tun, als hätte ich sie nicht bemerkt und mit geradeaus gerichtetem Blick, einfach an ihnen vorbei zu radeln.

 

Die eine sprach mich jedoch mit meinem Namen an. “Schickes Fahrrad“, meinte sie. Ich erkannte sie erst in diesem Augenblick wieder. Linda. Zögerlich wendete ich.

 

Sie saßen etwas erhöht an der Straßenböschung und sahen beide ungewöhnlich herausgeputzt und auch viel fraulicher aus, als ich sie aus der Schule in Erinnerung hatte.

 

Linda hatte genau das richtige gesagt. Stolz fuhr ich näher heran. „Stell es doch mal hier vor uns hin und setz dich zu uns.“ Sie klopfte auffordernd neben sich auf den Boden.

 

Der Ständer klickte hörbar zuverlässig und ich ging die drei Schritte zu ihnen. Blieb allerdings, mit Blick aufs Fahrrad zwischen ihnen stehen und freute mich über die unerwartete Aufmerksamkeit für meine Neuerwerbung.

 

Die Dreizehnjährigen waren zwar aus einer unteren Stufe, aber ihre älteren Brüder kannte ich aus dem Unterricht und mir fiel dann auch der Name der Dunkelhaarigen wieder ein. Uschi.

 

Ich setzte mich nun doch zu ihnen, auf die trockene Fläche aus den langen, fließenden Grashalmen aus dem Vorjahr.

 

Linda stand wenige Augenblicke später auf, um sich das Rad genauer anzusehen. Sie legte eine Hand lässig auf den noch warmen Sattel und drehte schwungvoll an der Pedale. Ihr Rock war sehr kurz und ließ die weißen Beine länger erscheinen, je weiter sie sich nach vorne beugte. Dabei war sie eigentlich eher eine kleine, rundliche Blondine. Die Rückstrahler der sirrenden Pedale warfen flirrendes, goldgelbes Licht auf ihr Knie, während sie die modernen Bremsbacken ebenfalls kommentarlos nickend inspizierte.

 

Sie kam dann still zu mir zurück und setzte sich unvermittelt rücklings vor mich. Also, so halb zwischen meine Beine. Dann sagte sie leise doch noch irgendwas und lehnte sich dabei sachte zurück an meine Brust. Oh.

 

Ich umfasste meine Knie, um meinen Oberkörper einigermaßen aufrecht zu halten. Aber sie nahm meine rechte Hand und dirigierte sie auf ihren weichen Pulli. Mein Herz klopfte plötzlich heftiger. Ich ließ mich daraufhin, mit angespannten Bauchmuskeln, ziemlich kontrolliert gegen die Böschung zurücksinken.

 

Sie blieb währenddessen angelehnt und drapierte meine schüchterne Hand nochmals recht nachdrücklich auf ihrem linken Busen. Mein Kopf wurde heiß und vermutlich ein wenig rot vor lauter Aufregung. Ich vergaß Uschis Anwesenheit und auch das neue Fahrrad stand nicht mehr so im Vordergrund.

 

Mein Herz pochte und mein beschleunigter Atem knapp über ihrem Ohr, war sicherlich gut hörbar für sie. Ich ertastete, behutsam forschend, ihre rundlichen Formen und sie schnurrte leise, während ihre, nach Eishampoo duftenden Haare, meine rechte Wange berührten.

 

Keine Ahnung, wie lange wir dort so eng beieinander saßen. Aber wir sprachen kein weiteres Wort und, als wir dann letztendlich aufstanden, hatte ich merkwürdiger Weise weiche Knie. Wenn ich ehrlich bin, zitterten sie unauffällig und ich hatte Mühe, einigermaßen gelassen auf den ziemlich hoch eingestellten Fahrradsitz zu kommen.

 

Eventuell war der Abschied ja sogar ein wenig peinlich. Ich erinnere mich lieber nicht mehr so genau daran.

 

Eines weiß ich jedoch noch ganz gewiss. „HERKULES“ stand auf dem Fahrrad, mit dem ich dann ziemlich wackelig davon schlingerte. Und zwar in goldenen, glänzenden Buchstaben auf dem tiefschwarz lackierten Rahmen.

 

 

HERKULES“. Genau wie dieser unbezwingbare Held aus der Mythologie.

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