Sigesmund Ruestig

Da stand ich nun, gerade einmal sechs Jahre alt und völlig verdattert über diese absolut fremde Umgebung um mich herum.

 

Ich war absichtlich und wohlüberlegt mit dem Franz gemeinsam ausgestiegen. Weil der vor genau sechs Wochen mit mir zugleich an einer Haltestelle eingestiegen war, hielt ich auch das gleichzeitige Aussteigen mit ihm für eine gute Entscheidung.

 

Wir hatten diese unendlich langen Wochen mit vielen anderen Kindern in einem Heim auf einer Insel verbracht. Uns dort jedoch fast nie gesehen.

 

Aber auf der Rückfahrt hatten wir wieder nebeneinander gesessen und angenehm ruhige Stunden, erst auf dem schwankenden Schiff und zuletzt im beinahe unbesetzten Bus miteinander geteilt.

 

Für einen Jungen in meinem Alter waren sechs Wochen ohne die vertraute Familie eine unermesslich lange Zeit, aber ich hatte sie heldenhaft bezwungen und dachte voller Zuversicht daran, bald wieder zu Haus zu sein.

 

Nun stand ich hier jedoch erst einmal allein und mein einziger Halt und auch gleichzeitig meine Orientierung auf der langen Rückreise, der ruhige Franz nämlich, wurde soeben freudig von seiner Mutter begrüßt.

 

Sie blickte etwas besorgt zu mir rüber und erkundigte sich, ob ich denn gar nicht abgeholt würde. Ich nickte tapfer und zuckte ein wenig hilflos und unglücklich mit den Schultern.

 

Mutter und Sohn machten sich sofort nach der freudigen Begrüßung auf den Heimweg. Obwohl wir Jungen uns auf der Insel nicht näher kennengelernt hatten, verband uns doch diese gemeinsame Reise und wir winkten einander zum Abschied grinsend zu.

 

Ich fühlte mich ein wenig wie betäubt und war zudem mächtig enttäuscht. Sechs elend lange Wochen war ich ohne Heimatkontakt auf dieser Nordseeinsel gewesen und jetzt hatte scheinbar niemand ein Interesse daran, mich abzuholen.

 

Vielleicht hatten sie mich ja vergessen. Meine Augen waren bei diesen Gedanken feucht geworden. Aber ich weinte nicht. Ich blinzelte und zwinkerte standhaft in die Sonne.

 

Mit einer tapferen Entschlossenheit und dem Gedanken alles richtig gemacht zu haben, verharrte ich nun gezwungenermaßen und mutterseelenallein an dieser Bushaltestelle.

 

Eine moderne Haltestelle, wie ich sie vorher noch niemals gesehen hatte und von der mich wahrscheinlich auch niemand abholen würde, weil sie so neu war, dass möglicherweise nur der Busfahrer und die Mutter vom Franz überhaupt wussten, dass sie an dieser Stelle gebaut worden war.

 

Weit und breit gab es keine Häuser und keine Menschenseele zu sehen. Nur ein großes Schild aus Holzplanken stand weit abseits und schräg am Straßenrand. Es war mit bunten Gebäuden und schwarzen Buchstaben bemalt worden. Aber ich konnte die Schrift darauf nicht entziffern.

 

Es war hier in der ländlichen Weite wesentlich kühler als im Bus. Mich fröstelte. Ich zog den Reißverschluss meiner hellblauen Windjacke bis oben hin zu und sah mich um.

 

Die Bushaltestelle auf der ich mich befand, war eine Art Verkehrsinsel mitten auf der Straße. Sie war länglich, an beiden Enden zugespitzt und vollständig mit neuen, hellen Steinplatten gepflastert worden. Der feine, gelbe Sand zwischen den Platten hatte sich noch nicht festgesetzt und er wehte jedem der äußerst selten vorbeifahrenden Fahrzeuge ein kleines Stückchen hinterher, als wolle er mitgenommen werden.

 

Man konnte diese etwas erhöhte Plattform nicht verlassen, ohne die erst vor kurzem durch die grüne Landschaft gebaute Autostraße überqueren zu müssen. Der Straßenasphalt wirkte noch vollkommen glatt und ungebraucht und ohne die weißen Fahrbahnmarkierungen glänzte er an manchen Stellen flirrend silbrig und wirkte gleichzeitig unergründlich tiefschwarz unter der schräg stehenden Nachmittagssonne.

 

Der Belag roch angenehm nach zu Haus. Genauer gesagt, erinnerte er mich an die Schuhe meines Vaters, wenn dieser von einer seiner Baustellen nach Haus kam. An seinen Schuhen haftete der Geruch manchmal, wenn er über den noch frischen, dampfenden Asphalt in einem Neubaugebiet gegangen war.

 

Ich hatte den großen, braunen Koffer mit den Metallecken neben mir abgestellt und lehnte an dem neu gepflanzten gelben Pfahl mit dem blechgerahmten Schildchen für die Busabfahrzeiten.

 

Heute war Sonntag und es fuhren an dieser Haltestelle um diese Zeit wahrscheinlich keine Busse mehr ab.

 

Ich schaltete innerlich auf beteiligungslos, was nach außen wirkte, als wartete ich geduldig. Ich träumte mit offenen Augen vor mich hin und dachte an den Seehelden Sigismund Rüstig, dessen Abenteuer ich gern mochte. Mit dem kühlen Pfahl als Mast im Rücken und dem Blick in die Sonne, malte ich mir aus, auf einem Schiff zu stehen. Auf einem hellen Deck, mitten in einem Strom aus schwarzem Asphalt.

 

Da mich nach langem Warten nun wohl doch keiner mehr abholen kam, musste ich mich halt mit diesem behäbig dahintreibenden, segellosen Segler auf den Heimweg machen. Ich würde mich einfach darauf treiben lassen.

 

Den schweren Koffer zerrte ich bis dicht an den Mast. Er diente nunmehr als Sitz. Es war mittlerweile sehr ruhig an dieser neuen Landstraße geworden, denn es fuhren gegenwärtig nicht einmal mehr vereinzelt Autos vorbei.

Der Wind nahm jedoch stetig zu und mein Gefährt wurde scheinbar angeschoben und vorangetrieben.

 

Der wehende, gelbe Sand malte geschwungene Wellenmuster auf den schwarz schimmernden Belag zu beiden Seiten des steinernen Schiffes.

 

Eine Träne füllte unkontrollierbar mein linkes Auge, bis sie überschwappte und kitzelnd an meiner Nase hinab lief. Ich wünschte mir das gleiche für die rechte Seite. Schon wegen des Harmoniegefühls. Aber es schwappte nichts.

 

Ich fühlte mich allein, die Zeit dehnte sich unendlich und der schwere Kahn kam einfach nicht richtig voran. Zudem war es ungemütlich frisch geworden und mein Magen knurrte nun auch noch vernehmlich.

 

So ein Mist, dachte ich, während die rechte Träne überraschend doch noch kam, meine kühle Nase als Abtropframpe nahm und dann einen dunklen Fleck auf den hellen Betonplatten hinterließ. So ein Mist.

 

Ich verträumte die Zeit und als mein Vater dann irgendwann mit seinem chromblitzenden Motorrad längsseits ging, war ich so in meiner Seefahrerwelt gefangen, dass ich meinen zum Abholen herbeigeeilten und besorgten Vater beinahe überhaupt nicht wahrnahm.

 

Ich nickte ihm auch nur stumm zu, bevor ich etwas steifbeinig hinter ihn auf die rote Motoradsitzbank kletterte, um ihn dann fest mit beiden Armen zu umschlingen.

 

So fest, wie wohl ein halb ertrunkener Schiffbrüchiger sich an einen im Meer treibenden Holzmast geklammert hätte.

 

 

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