Gleitende Augenblicke

 

Sabine war ihr eigentlicher Name, sie wurde jedoch lange Zeit „Biene“ gerufen. Insbesondere ihre Mitschülerinnen hatten diesen, ursprünglich verniedlichenden Spitznamen, irgendwann zur „Hummel“ umgewandelt. Wohl wegen der auffallend kurvenreichen Körperformen, die sich bei ihr mit den Jahren entwickelt hatten. Sie mochte diesen Namen offensichtlich auch. Ja, sie genoss ihn scheinbar irgendwie.

 

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Ich mochte sie allerdings insgeheim besonders wegen einer ungewöhnlichen Muskelbewegung in ihrem Gesicht und lud sie, allein aus diesem Grund, sehr gern mal zum Essen ein.

 

Denn wenn ich ihr gegenüber saß, während sie die Essensportion auf dem Weg vom Teller zum Mund mit gesenktem Blick verfolgte, um dann ihre ansehnlichen Lippen zu öffnen, sprang bei der Bewegung des Unterkiefers unversehens eines ihrer Augen unnatürlich weit auf.

 

Dabei starrte es dem Gegenüber, in diesem Fall also mir, etwas oberhalb der Tischkantenhöhe, direkt auf die Gürtelschnalle. Dieser Vorgang wiederholte sich bei jedem Bissen. Sie könne nichts dagegen tun, meinte sie. Ich fand es einfach nur faszinierend.

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Meine Schwester erzählte mir bei anderweitiger Gelegenheit, dass Hummel, wenn sie mit Männern ausging, manchmal keinen Slip trug. Ich habe es tatsächlich nie bemerkt. Wohl weil ich so vollkommen von diesem ungewollten, einseitigen Augenaufschlag angetan war.

 

Apropos Augenaufschlag. Meine Brille ging in der Wildnis verloren. Ich sah zu, wie sie aufschlug und dann mit einigen Kubikmetern Felsgestein splitternd verschwand.

 

Wegen der Unschärfe meiner Gleitsichtbrille im Auftrittsbereich, hatte ich mich etwas verschätzt und war am Hang gestrauchelt, machte dabei einen wackeligen Fehltritt, weshalb massig Geröll dem Flussbett unten im Talgrund entgegen rutschte.

 

Mit dabei war auch meine Brille, die ich mir beim hektischen Ausbalancieren versehentlich mit den Armen von der Nase geschubst hatte. Titanflex verbog sich, glitt hinab und wurde verschluckt und dabei gemahlen, wie in einem Hühnermagen.

 

Ich sollte mir endlich angewöhnen, ohne Brille zu wandern.

 

Meine Reservebrille, die auf dem Armaturenbrett herumlag, war zwar auch irreparabel verbogen, jedoch noch zu gebrauchen. Die Glasstärken stimmten jedenfalls nach wie vor. Zum Fahren sind diese modernen Gleitsichtbrillen ja auch eine sehr hilfreiche Erfindung, man erkennt einerseits die Armaturenanzeigen deutlich, wenn man den Blick senkt und kann andererseits gut die Fahrbahn überblicken, wenn man wieder aufschaut.

 

Nur beim Wandern, insbesondere sofern das vor einem liegende Gelände abschüssig ist, muss man den Boden mehr erahnen, als das man ihn erkennen kann, weil die Brille nur ungefähr bis auf Armeslänge scharfe Konturen zeigt. Die Füße bleiben jedoch fataler weise auf Schritt und Tritt relativ unscharf. Selbst ein gewiefter Fährtenleser, würde mit solch einer Gleitsichtbrille vermutlich irgendwann ins Schlingern geraten.

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Bei nächster Gelegenheit machte ich mich also notgedrungen auf zum Optiker. In Lagos gibt es am Marktplatz, direkt in der Fußgängerzone der Altstadt, zwei augenfällig gut sortierte Brillenläden.

 

Ich hatte meine alte Brille aus dem Auto mit dabei und betrat zuversichtlich den Elegantesten, um mein Anliegen vorzubringen. Zeigte meine verbogene Reservebrille mit den intakten Gläsern vor und bat darum, sie in ein neues, passendes Gestell einzubauen.

 

Die optisch beeindruckende Frau, im knapp sitzenden, strahlend weißen Kittel, sah sich kurz die schiefe Brille an und erklärte, meine Augen müssten vorab untersucht und vermessen werden, dann würde ein angemessenes Gestell herausgesucht, angepasst und erst dann könnten die Gläser eingeschliffen werden. Das würde insgesamt ca. 600 bis 800 Euro kosten.

 

Einfach so, irgendeine Fassung auswählen und die vorhandenen Gläser einsetzen, das würden sie nicht anbieten. So etwas ginge bei ihnen auf keinen Fall. Sie lächelte ein gewinnendes Lächeln, wobei sie mit dem einen Auge, beinahe unwillkürlich zwinkerte, beziehungsweise auf irgendeine vertraute Weise zuckte.

 

Sie blieb mir, trotz dieser unerwarteten Absage, weiterhin recht sympathisch und ich verabschiedete mich freundlich.

 

Ein bisschen enttäuscht wechselte ich über den Platz, in ein etwas unauffälligeres Geschäft. Der freundliche Optiker dort durchsuchte minutenlang sein Brillenangebot, ging geflissentlich hinter jede der fünf Ladentheken, öffnete lange geordnete Auszüge und fragte zudem bei seiner Kollegin nach. Es gab angeblich nichts passendes.

 

Für ungefähr 500 Euro könne er mir jedoch eine Neue anfertigen. Ich sagte, ich würde darüber nachdenken, denn an sich wünschte mir eigentlich nur eine funktionierende, günstige Zweitbrille und hatte dabei so an etwa 100 bis 200 Euro aus der Urlaubskasse gedacht.

 

Das dritte, etwas unscheinbare, zurückliegende Brillenlädchen, welches ich erst jetzt entdeckte, machte gerade Pause. Oder war einfach so geschlossen.

 

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Unverrichteter Dinge und mit leicht gesenktem Kopf, lief ich nachdenklich, die mit gefährlich glattem Stein gepflasterte Haupteinkaufsstraße den Hang hinauf, in Richtung Parkplatz.

 

Mein Lieblingsbistro, an dem ich fast nie vorbeigehen konnte, ohne etwas zu mir zu nehmen, war sehr gut besucht, und so setzte ich mich mit dem Rücken zur Wand auf einen Ziegelvorsprung.

 

Eine neue, ungewohnte Perspektive, in eine kleine Nebengasse tat sich auf. Sonnenlichtreflexionen zogen meinen Blick an. Glas in einem überdimensionalen, halbierten Brillengestell, welches aussah, als wäre seine andere Hälfte eingemauert, ragte aus der Wand. Etwa so groß, wie die Frontscheibe eines Kleinwagens.

 

Ach ja, hier gab es ja noch einen kleinen Brillenladen. Ich konnte mich erinnern, dass er so schlicht und beinahe fensterlos war, dass ich ihn nicht ernsthaft in Erwägung gezogen hatte.

 

Ohne etwas zu bestellen, ging ich augenblicklich die wenigen Schritte zum Eingang hinüber.

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Eine überaus freundliche Frau mit auffällig langen, blonden Haaren begrüßte mich strahlend, platzierte mich auf dem bequemen Zweiersofa und bat um etwas Geduld. Sie nahm das Telefon wieder zurück ans rechte Ohr, während sie mit der linken Hand Notizen machte.

 

Der Laden war in der Tat recht klein und es sah nach wenig Auswahl aus. Ich machte Anstalten aufzustehen, aber sie bedeutete mir mit einem Lächeln und einer dezenten Geste, doch bitte einen Moment sitzen zu bleiben.

 

Sie kannte sich scheinbar gut aus in ihrem Geschäft. Es gab überraschend schnell ein geeignetes Brillenmodell. Schon die zweite Fassung passte zu den Gläsern und auch auf meine Nase. Ziemlich modern und glänzend schwarz, aber für nur 78,- Euro. Und zwar inklusive Federscharnier und Etui.

 

Sie würde die handwerkliche Arbeit des Einschleifens abgeben, aber um 17:00 Uhr sei alles fertig und die Brille wieder zurück und abholbereit.

 

Ich freute mich aufrichtig über den freundlichen Service und diese äußerst günstige Lösung meines Brillenproblems.

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Am Nachmittag wartete ich in meinem Bistro gegenüber. Trank dabei einen extra schwarz gebrühten Tee und wollte dann, nach der zweiten Tasse, hinübergehen, um die neue Brille auszuprobieren.

 

Überraschend kam sie die Straße hinauf. Aus der falschen Richtung. Auf einem Acrylglastablett. Zusammen mit dem alten, verbogenen Gestell. Ich konnte beide gut erkennen. Sie lagen offen nebeneinander und wurden sehr umsichtig von einer weiß bekittelten Dame getragen. Ich erkannte auch sie wieder.

 

Es war die Optikerin aus dem ersten, recht teuren Brillengeschäft. Sie hatte nicht nur ungewollt gezwinkert, nein, unter dem adrett gebügelten Arbeitskittel, ließ sich nun zudem eine ausgeprägte „Hummelfigur“ vermuten. Ihre bewusste Gangart indes, die war wohl eher diesem ungewöhnlich glatten Pflaster geschuldet.

 

Ihre Körperhaltung erinnerte mich jedoch, bei allem Respekt, an einen Laborforscher, der ein Tablett mit einigen offenen Kamel-Urin-Ampullen, vorbereitet zu weiteren Untersuchungszwecken, auffallend steif, dabei ziemlich distanziert und mit leicht vorgestreckten Armen vor sich her trug. Sie verschwand unter der großen, halbierten Brille, durch die kleine, offenstehende Tür.

 

Ich wollte sie nicht in Verlegenheit bringen und wartete unauffällig und geduldig noch einige Minuten länger im Bistro, bis ich sah, dass sie den Laden wieder verlassen hatte.

 

Währenddessen überlegte ich mir, ob beide Brillengeschäfte eventuell einem Unternehmen angehörten. Oder was für ein Zufall sonst zu dieser eigenartigen Situation geführt hatte.

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Beim Kauf von Gleitsichtbrillen bewegen sich manchmal wohl auch unvermutet die Preise nach unten. Aus irgendeinem Grund wurden mir jedenfalls von der freundlichen, blonden Optikerin, für die neue und recht moderne Brille mit dem schwarz glänzendem Gestell, dann letztendlich nur 70,-Euro berechnet. Aus welchem Anlass auch immer.

 

Ich kann mir diese unterschiedliche Art der Preisfindung jedenfalls bis heute schwerlich erklären.

 

Zur Gewissheit wurde jedoch nach und nach meine Erkenntnis, dass ich der blinzelnden „Brillenträgerin“ aus dem ersten Geschäft, selbst im Nachhinein nichts würde verübeln können, weil sie mich so erstaunlich an die, über die Jahre längst vergessen geglaubte „zwinkernde Hummel“, aus vergangenen Jugendzeiten erinnerte.

 

 

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