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Der peitschende Knall war noch nicht verhallt, da zischte die Kugel links an mir vorbei und schlug in die Ziegelsteinmauer ein. Steinsplitter, rot wie geronnenes Blut, flogen durch die Luft.

Ich lief entschlossen weiter geradeaus. Ich wusste, er war hinter mir. Und ich hörte an diesem typischen Geräusch, wie er energisch und routiniert das Gewehr nachlud.

Auch ich hatte ein Ziel. Es lag etwa neun Meter vor mir. Also nur noch wenige Schritte. Da knallte es noch einmal und die Flugbahn des zweiten Geschosses verlief diesmal nur wenige Zentimeter neben meinem rechten Ohr.

Ich sah mich nicht um. Ich zuckte nicht einmal, während die Kugel an mir vorbei pfiff. Natürlich hätte er mich leicht treffen können. Mein Vater war ein ausgesprochen guter Schütze. Ich weiß bis heute nicht, wie viele Menschen er in seinem Leben als Soldat erschossen hat.

Anschließend blieb es einen Moment völlig ruhig. Kein Vogel. Kein Wort. Kein Blätterrauschen. Eine etwas beunruhigende Stille. Er schoss nicht noch einmal.

Mit den nächsten drei, vier Vorwärtsbewegungen erreichte ich mein Ziel. Eine Holzplatte, genauer gesagt, ein Schalbrett, wie es üblicher Weise zum Verschalen von glattem Beton benutzt wurde. Darauf befand sich ein mit Blauköpfen aufgenagelter Pappdeckel. Er stammte von einem Schuhkarton. Die zugehörigen Schuhe hatte meine kleine Schwester zu Weihnachten bekommen.

Ungefähr mittig war auf diese glatte, weiß glänzende Pappe, mit einem dicken, weichen Zimmermannsstift, ein gefüllter, dunkler Punkt aufgemalt worden. Um ihn herum verliefen, in etwa gleichmäßigem Abstand, zehn bleigraue Kreise.

Nun waren auf dieser selbstgefertigten Zielscheibe insgesamt elf Einschusslöcher zu sehen. Fast alle befanden sich ziemlich nah beieinander. In Zentrumsnähe. Nur das eine, welches von der Kugel stammte, die mein Ohr ganz knapp verfehlt hatte, lag direkt am rechten Kartonrand. Sie war dort eingeschlagen und hatte ihn zerfetzt. Ich weiß noch genau, wie erstaunt ich war, weil die zehn Treffer in der Mitte ziemlich gleichförmige, runde Löcher hinterlassen hatten. „So zerfranst hätte wohl auch mein Ohr ausgesehen - falls die Kugel mich erwischt hätte“, dachte ich einen kurzen Moment.

Ohne mich umzudrehen, sagte ich laut die Treffer auf den Ringen an: „Zehn, Neun, Neun, Acht, Acht, Acht,…“.

Das splittrige Loch, links im roten Mauerwerk und das zerfaserte am rechten Rand der weißen Pappe, ließ ich unerwähnt. Als ich mit der Aufzählung fertig war, sah ich mich betont langsam und kontrolliert um - er war weg.

Ich habe in meinem Leben nie eine richtige Schusswaffe besessen, wusste jedoch bereits als Dreizehnjähriger, wie man Waffen entsichert, sie demontiert und reinigt. Was ein Blattschuss ist und wie weit ein gutes Gewehr ungefähr trägt, war mir auch geläufig. Ich konnte Zielfernrohre aufschieben, justieren und einschießen. Auch wie man funktionierende Schalldämpfer für Pistolen oder Gewehre selbst herstellt, hatte ich bis dahin gelernt. Gebraucht habe ich dieses Wissen eigentlich nicht wieder.

Als ich jedoch Jahre später, als junger Erwachsener in einer fremden Stadt, an einem roten, backsteinernen Juweliergeschäft vorbeikam und dort zufällig ein handgemaltes Hinweisschild aus weiß glänzender Pappe aufgestellt sah, ließ ich mir spontan - sozusagen im Vorbeigehen und kurz entschlossen - bei diesem Juwelier zwei Löcher in die Ohren schießen.

 

Ohrstecker mit blutroten, blitzenden Steinen prangten ab sofort an meinen leicht geschwollenen, pulsierenden Ohrläppchen.

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